Ein junger Priester mit bemerkenswertem Charakter

„Sein Verstand hatte ein hohes theologisches Niveau“, berichtet einer seiner Kameraden aus dem Seminar; ein anderer jedoch ist da genauer: „Ich hatte nicht den Eindruck, daß er ein Intellektueller war, er war eher den praktischen Dingen zugewandt.“

Im französischen Seminar in Rom verwaltet er die Kasse der Buchhandlung und der Prokura, deren Erlöse armen Katechismuskindern zugutekommen. Er ist zugleich auch Oberzeremoniar, und er füllt diese Funktion mit Würde aus. Er ist fromm, allerdings ohne seine Frömmigkeit zur Schau zu stellen, „er ist ein Mitbruder, der sich selbst völlig zurücknimmt, der überhaupt kein Aufsehen macht.“ Seine alltäglichen Tätigkeiten sind von religiösem Geist durchdrungen, und aus seiner täglichen Messe hat er im vergangenen Jahr ein Beispiel an Bescheidenheit gemacht.

Eine starke Persönlichkeit

Aber ansonsten „ist er schon eine starke Persönlichkeit mit sehr festen Überzeugungen“, die er dann zeigt, wenn ihm scheint, daß die heilige Lehre auf dem Spiel steht, oder daß er den Standpunkt des heiligen Thomas von Aquin verteidigen muß, und darauf versteht er sich!

Bewundernswert und schlagkräftig, so erschien uns Abbé Marcel Lefebvre“, sagt einer seiner Mitseminaristen. „Bewundernswert wegen seiner Sorge um die Wahrheit, so wie er sie nach dem heiligen Thomas von Aquin sah. Schlagkräftig: Was kümmert die Meinung derjenigen, die seinen Standpunkt nicht teilen! Sein Glaube fordert die Liebhaber theologischer Feinheiten heraus. Nein, er war kein ‚konzilianter‘ Charakter. ‚So‘ hatte ihn der Herrgott gemacht. [1 ]

Alles in allem ist er ein Seminarist von ausnehmender Freundlichkeit, der sich eines unbestreitbaren Rufes der Frömmigkeit und Güte erfreut. „Er war für uns ein Vorbild, lächelte immer, war immer freundlich.“

 


 

Ein junger Priester bemerkte, dass Erzbischof Lefebvre „in seinen Ideen trotz seinem liebenswürdigen und sehr höflichen Ausdruck unerschütterlich war“.

P. Bernard Boulanger, C.S.Sp.

 


 

  • 1Ebd., S. 72, Zeugnis Pater Joseph de Tinguys; es ist das härteste Urteil, welches jedoch in Marcel Lefebvre jenes Körnchen nicht boshafter Boshaftigkeit eines überlegenen Geistes verkennt.

Man achte auf den von den Zeugen bereits bemerkten Kontrast zwischen den fest verankerten Überzeugungen, die ihm den Spitznamen „sancta doctrina petrificata“ (die steingewordene heilige Lehre) eintrugen, und der Freundlichkeit und dem Organisationstalent, die ihm eine Aura von Liebenswürdigkeit verliehen. Was ist der Schlüssel für diese verwirrende psychologische Dualität? In Wirklichkeit hat Marcel keinen verschlossenen Geist, sondern einen entschlossenen Willen[2 ] – er ist eben ein Mann mit Überzeugungen.

  • 2„Vir acerrimini ingenii et propositi tenax.“ Er war „ein mit einem sehr scharfen Geist und einem starken Willen begabter Mann“ (Matutin des Breviers, Lectio 6).